Tattoo Lexikon • von Dirk-Boris Rödel
Indianerporträts, oder korrekter: Porträts von American Natives gehören schon seit jeher zum Motiv-Repertoire von Tätowierkünstlern. In den Vorlagenalben von Christian Wahrlich, Herbert Hoffmann und anderen deutschen Tattoo-Pionieren des letzten Jahrhunderts sieht man sie noch im klassischen Traditional-Stil mit dicken schwarzen Umrisslinien und knalligen Farben – klar, bis in die 70er Jahre hinein gab es schließlich auch keinen anderen Tattoostil.
Das änderte sich ganz langsam und zaghaft in den späten 80ern und frühen 90ern; Tätowierer wurde experimentierfreudiger und mit der Entwicklung des Fine-Line-Stils durch Tattoo-Künstler wie Jack Rudy in den USA wagten sich manche auch vorsichtig in Richtung realistischerer Porträts, wenn auch noch nicht in der Qualität und Realitätsnähe, wie man diese Tattoos heute bekommen kann.
Einen ganz wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung boten die Fotografien, die der US-Amerikaner Edward Sheriff Curtis (1868 – 1952) von Native Americans zahlreicher Stämme angefertigt hatte. Curtis, der bereits im Alter von 17 Jahren eine Lehre als Fotograf begann und in verschiedenen Fotostudios arbeitete, begann ab seinem 27. Lebensjahr damit, sich ganz auf die fotografische Dokumentation der nordamerikanischen Indianer zu fokussieren. Zu seinen ersten Modellen gehörte Häuptling Chief Joseph von den Nez Percé.
Im Auftrag des Bankiers J.P. Morgan begann Curtis ab 1906 die Arbeit an einer gewaltigen fotografischen Dokumentation der American First Nations, die schließlich zu 20 Bildbänden mit 1500 Fotografien führte; insgesamt hatte Curtis unglaubliche 40.000 Fotos von Angehörigen von 80 verschiedenen Indianerstämmen angefertigt. Neben Bilddokumenten entstanden so auch Sprach- und Musikdokumente und Berichte über Rituale und Feiern wie das Sundance-Ritual der Blackfeet oder die Potlatch-Feste kanadischer Kwakiutl.
In den 1930er Jahren verkaufte die J.P. Morgan Company die Rechte an Curtis’ Arbeiten an einen Bostoner Verlag, wo sein Werk jahrzehntelang in Vergessenheit geriet. Erst in den 70er Jahren wurden die fotografischen Dokumente wiederentdeckt und aufgearbeitet.
So erschienen nach und nach die ausdrucksstarken Fotos von Edward Curtis gerade rechtzeitig, um Tätowierern weltweit als Motive und Vorlagen zu dienen. Die wettergegerbten, rauen und faltigen Gesichter indianischer Häuptlinge und Krieger, ihr imposanter Federschmuck und ihre aufwendig dekorierte Kleidung eigneten sich hervorragend für Tätowierer, die sich an der neu erlernten feinen Schattierungstechnik probieren wollten, der sich stak von der sehr robusten Schattierung traditioneller Motive unterschied. Curtis’ Fotografiertechnik, die hervorragend ausgeleuchtete Bilder mit großem hell-dunklel-Kontrast hervorbrachten, waren praktisch wie geschaffen für diesen neuen Tätowierstil.
Auch heute noch ist der Bildband »Die Indianer Nordamerikas«, der 2005 beim Kölner Taschen-Veerlag neu kompiliert und veröffentlicht wurde, beinahe so etwas wie Pflichtlektüre für jeden Realistic-Tattookünstler.
Text: Dirk-Boris Rödel
Grafik: Jonas Bachmann