Ein Buchladen, leicht staubig, irgendwo in der Stadt. Ich stehe vor einem Regal und habe Steve Gilberts „The Tattoo History Source Book“ in der Hand. Der Name ist Programm – das „The“ eingeschlossen. Gilberts Werk gilt als die Bibel unter den Tattoo-Büchern, der unangefochtene Klassiker, wenn es darum geht, die Geschichte der Körperkunst zu durchleuchten. Von den Tattoosim alten Rom bis hin zur elektrischen Tätowiermaschine – hier gibt es alles, was man über Tinte und Haut wissen muss. Schön dick, schön schwer und voller faszinierender Texte von Psychiatern, Kriminologen, Schriftstellern und berühmten Tätowierern. Ich blättere durch die Seiten und frage mich: Gibt es eigentlich tätowierte Figuren in Büchern – fiktive Charaktere mit besonderen Tattoos?
„Kafka selbst hätte sich bestimmt kein Tattoo stechen lassen“, denke ich. Oder vielleicht doch? EinKafka-Käfer auf der Schulter? Wahrscheinlich eher nicht. Aber die Figuren seiner Bücher? GregorSamsa? Sicher doch. Der Käfermann nach seiner Verwandlung mit einem Insekt auf dem Nacken – gut vorstellbar.
Tattoos und Bücher – beides ist älter als Instagram und trotzdem plötzlich cooler als je zuvor. Heute tragen Stars literarische Zitate auf der Haut: Brad Pitt zum Beispiel hat auf seinem Arm den Satz „Absurdities are the only realities“ aus einem Brief von Sartre an Simone de Beauvoir. Evan Rachel Wood trägt auf ihrem Nacken ein Zitat aus Edgar Allan Poes Gedicht „All that we see or seem, is but a dream within a dream.“ Und Lady Gaga? Sie hat Rainer Maria Rilkes Worte „In der Tiefewohnt das Licht“ in deutscher Schrift auf ihren Arm tätowiert.
Literarische Tattoos eröffnen neue Welten und geben uns einen anderen Blick auf die Geschichten, die wir erzählen. Früher hatten Tattoos den Beigeschmack von zwielichtigen Gestalten in dunklen Ecken, und Literatur war die Sache der Intellektuellen, irgendwo in ihren Elfenbeintürmen. Aber das ist lange vorbei. Tattoos und Literatur? Beides sind uralte Erzählformen – und beides hat dieFähigkeit, Geschichten zu konservieren und sichtbar zu machen. Ob als rituelles Zeichen, Schutzsymbol oder einfach nur, weil es gut aussieht: Tätowierungen erzählen Geschichten, genau wie die Bücher, die uns nicht mehr loslassen.
Queequeg aus Moby-Dick
Ein berühmtes Beispiel für Tattoos in der Literatur findet sich in Moby-Dick von Herman Melville. Queequeg, der tätowierte Harpunier, trägt Muster, die nicht nur seine kulturelle Herkunft symbolisieren, sondern auch seine Verbindung zu den mythischen Kräften des Meeres darstellen. Tattoos sind hier mehr als nur Körperkunst – sie sind ein Schlüssel zu Identität und Schicksal. Ähnlich wie in der klassischen Literatur bleibt auch bei realen Tattoos die Bedeutung oft rätselhaft und offen für Interpretationen.
Die Magie der Tinte
Moby Dick – dieser riesige, geisterhafte Pottwal ist nicht nur das Monstrum der Meere, sondernauch das Tattoo auf dem linken Unterarm von John Irving, dem Schriftsteller und bekennendenTattoo-Enthusiasten. „Nur noch ein Waisenkind gefunden“, liest man da, die letzte Zeile aus Melvilles Meisterwerk, die sich mit einem Hauch von Melancholie in seine Haut eingegraben hat. Auf dem rechten Unterarm, seinem Schreibarm, prangt der Schluss von „Princes of Maine, Kings of New England“ aus The Cider House Rules, der in tätowierter Form zum ständigen Begleiter seiner literarischen Reise wird.
Irving und Tattoos – eine Liebesgeschichte, die sich durch seine Bücher zieht wie Tinte durch dasPapier. Nehmen wir zum Beispiel Bis ich dich finde, seinen elften Roman, der sich um den Schauspieler Jack Burns dreht. Seine Mutter, Alice, eine Tätowiererin, wird zur Ikone des Körperschmucks, während sein Vater, William Burns, der Kirchenorganist mit einer Obsession fürTinte, sich dermaßen in die Kunst des Tätowierens verstrickt, dass sein Körper bald einem lebendigen Notenblatt gleicht.
Die Motive – eine Verflechtung aus Tätowierungen, Orgelklängen und sexuellen Abenteuern – sind der Stoff, aus dem Irving seine Geschichten webt. Es ist ein Roman, der sich in die Abgründe von Obsessionen und Freundschaften begibt; er beleuchtet Verrat, Rache und das immerwährende Streben nach Vergebung, hier speziell bezogen auf Sohn, Vater und Mutter; und um Tattoos, die Geschichten erzählen und den Körper mit Erinnerungen markieren. Tattoos fungieren als eine Art visuelles Gedächtnis, das die Geschichten seiner Charaktere miteinander verwebt.
Rebellion und Trauma: Lisbeth Salander
Lisbeth „Libby“ Salander ist eine fiktive Figur, die der schwedische Autor und Journalist Stieg Larsson in seiner preisgekrönten Millennium-Serie geschaffen hat. Sie tauchte erstmals 2005 in dem Roman Verblendung (Das Mädchen mit der Drachentätowierung) auf. Lisbeth ist eine unsoziale Computerhackerin mit einem fotografischen Gedächtnis, die sich mit Mikael Blomkvist, einem Enthüllungsjournalisten und Herausgeber der Zeitschrift Millennium, zusammentut. Ihre ikonische Drachentätowierung auf dem Rücken ist nicht nur ästhetisch auffällig, sondern auch eine visuelle Manifestation ihres inneren Konflikts.
Lisbeths Tattoos, insbesondere der Drache, spiegeln ihren rebellischen Charakter wider und stehen symbolisch für ihren Kampf gegen Unterdrückung und Missbrauch. Von früher Kindheit an wird sie von Gewalt und Rachsucht geprägt. Mit nur zwölf Jahren greift sie zur Selbstjustiz und übergießt ihren Vater mit Benzin, nachdem er ihre Mutter brutal misshandelt hat. Dieses traumatische Erlebnis führt dazu, dass Lisbeth als „Gefahr für sich selbst und andere“ eingestuft und in die St. Stefans Kinderpsychiatrie gebracht wird. In der Psychiatrie weigert sie sich, mit Psychologen oder Sozialarbeitern zu sprechen, und entwickelt nur zu ihrem Sachverwalter, Holger Palmgren, ein Vertrauensverhältnis. Trotz ihrer Flucht aus mehreren Pflegefamilien gelingt es ihr, bei Palmgren zu bleiben, der sie vor einer erneuten Einweisung in die Psychiatrie schützt. Ihr Drachentattoo symbolisiert nicht nur ihren inneren Kampf gegen die erlittene Gewalt und Unterdrückung, sondern auch ihren starken Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstbehauptung. Der Drache wird zu einem Symbol für ihre Entschlossenheit, sich gegen ihre Vergangenheit zu wehren und für ihre Freiheit zu kämpfen.
Salander nutzt ihre Tattoos, ähnlich wie Brad Pitt mit seinem Sartre-Zitat oder Lady Gaga mit ihrem Rilke-Tattoo, um ihre persönliche Geschichte zu erzählen und ihre Identität zu definieren. Amazon MGM Studios plant, die Millennium-Thriller in Form einer Fernsehserie zu adaptieren. Veena Sud, die bereits für AMC die Serie The Killing – ebenfalls eine Adaption einer skandinavischen Vorlage – entwickelt hat, wird als Showrunnerin fungieren. Schon 2020 gab es Gerüchte über eine Serie mit dem Titel The Girl with the Dragon Tattoo, und auch in der neuen Version wird dieser Titel erwogen. Obwohl die Serie eine neue Geschichte mit frischem Setting und neuen Charakteren erzählen soll, bleibt eines konstant: Lisbeth Salander.
Tattoos als „literarischer“ Spiegel der Seele
Tattoos und Bücher haben eins gemeinsam: Sie erzählen Geschichten, die nicht vergessen werden wollen. Wenn Menschen sich Textstellen auf die Haut tätowieren, dann geht es nicht nur um die eigene Geschichte – es geht um die Konservierung der Literatur. Vielleicht liest jemand Rilke oder Brecht, weil er das Zitat auf dem Arm von Lady Gaga oder Brad Pitt gesehen hat. Und wer weiß? Vielleicht gibt es bald auf der Frankfurter Buchmesse einen Stand, an dem man sich Zitate stechen lassen kann. Denn in dem Moment, in dem ein Tattoo sichtbar wird, beginnt der Dialog – zwischen Träger und Betrachter, zwischen Körperkunst und Literatur. Die Bedeutung wird neu verhandelt, jedes Mal, wenn jemand fragt: „Und was bedeutet das?“ Die beste Antwort? Lächeln. Denn manchmal ist es das, was zwischen den Zeilen steht, was wirklich zählt. Oder, in diesem Fall, zwischen den Linien der Tinte.
Text: Julian Bachmann • Grafik: Jonas Bachmann